Machteld Venken: Die Peripherie im Zentrum. Schule und Grenze im Europa der Zwischenkriegszeit (= Studien zur Ostmitteleuropaforschung; 57), Marburg: Herder-Institut 2023, IX + 269 S., ISBN 978-3-87969-483-9, EUR 52,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Aneta Heinrich: Vereine und staatsbürgerliche Emanzipation. Das Vereinswesen im hinterpommerschen Regierungsbezirk Köslin in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, Kiel: Verlag Ludwig 2020
Mirek Němec: Erziehung zum Staatsbürger? Deutsche Sekundarschulen in der Tschechoslowakei 1918-1938, Essen: Klartext 2010
Die Lehrstuhlinhaberin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Luxemburg vereint in der hier vorgelegten Studie ihre in zahlreichen Veröffentlichungen nachgewiesenen Forschungsschwerpunkte zur transnationalen, transregionalen und vergleichenden Geschichte Europas und legt den Fokus auf die Migration. Den Hintergrund ihrer Untersuchung bilden die infolge des Versailler Vertrags entstandenen Herausforderungen für die europäischen Nationalstaaten, in ihren neuen Grenzgebieten, in denen sich die Bevölkerung häufig drastisch in religiöser, sprachlicher, kultureller oder ethnischer Hinsicht unterschied, nationale Loyalität zu vermitteln.
Peripherie im Zentrum analysiert die Erfahrungen aus dem Bereich des Schulwesens im Grenzland anhand eines symmetrischen Vergleichs von zwei Fallstudien aus Mitteleuropa und aus Westeuropa. Dies sind der polnische Teil Oberschlesiens, der von deutscher zu polnischer Staatshoheit überging, sowie - und damit erstmals Gegenstand komparatistischer Forschung - die Regionen Eupen, Sankt Vith und Malmedy, die aus der deutschen in die belgische Staatshoheit wechselten. Nach dem Ersten Weltkrieg waren somit zwei neue Verwaltungseinheiten entstanden: Polnisch-Oberschlesien und Eupen-Malmedy. Die vorgelegte Arbeit analysiert, wie der Spracherwerb in den Grenzgebieten als entscheidendes Mittel zur Entstehung der Grenze fungierte. Die Verfasserin lässt sich dabei von der Beobachtung leiten, dass in der Zwischenkriegszeit auf dem europäischen Kontinent drei Denkweisen bestimmend gewesen seien: ein Denken in Grenzgebieten, ein Denken in Sprachen und ein Denken über Kinder (3). Dementsprechend geht die Studie der Frage nach, wie die Schulen, ihre Lehrpläne und die von ihnen unterrichteten Schüler:innen im Kontinentaleuropa der Zwischenkriegszeit nach dem Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit neu geordnet wurden. Die Schulen in diesen Grenzgebieten waren dazu auserkoren, bei der Schaffung eines stabilen, friedlichen Europas eine entscheidende Rolle zu spielen.
In beiden untersuchten Grenzgebieten lagen z. B. den Spracherwerbsregeln unterschiedliche Ziele zugrunde. Während in Polnisch-Oberschlesien ein Drittel der Bevölkerung im Alltag kein Polnisch sprach, wollten polnische Nationalisten so viele monolingual polnischsprachige Bürger:innen wie möglich heranbilden. Dem standen allerdings bilaterale und supranationale Abkommen entgegen, die gesonderte Schulen für Schüler:innen vorschrieben, deren Umgangssprache nicht Polnisch war. In Belgien hingegen, wo Unterricht in der Umgangssprache (sei es Französisch, Niederländisch oder Deutsch) auf gesamtgesellschaftliche Zustimmung stieß, wurde keineswegs favorisiert, alle Grundschüler:innen in derselben Sprache unterrichten zu lassen. Hier entbrannte der Streit stattdessen über den Fremdsprachenunterricht, wobei die dominierende Sprache nach wie vor das Französische blieb (73 f.).
In der Einleitung wird zunächst verdeutlicht, wie das Denken in Grenzgebieten, in Sprachen und über Kinder während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in ganz Europa an Bedeutung gewann, und wie sich diese Entwicklung - in ähnlicher oder unterschiedlicher Weise - innerhalb der untersuchten Regionen ausprägte. Während in historischen Forschungsarbeiten zu Grenzgebieten überwiegend in Einzelfallstudien einzigartige Entwicklungswege konstatiert würden, will die Verfasserin in Anlehnung an Jürgen Kocka und Heinz Gerhard Haupt [1] mit einem systematischen Vergleich ihrer beiden Fallstudien zu einer differenzierteren Erklärung der Entwicklung historischer Ereignisse beitragen. Bei ihr findet u. a. ein neu entwickelter raum-zeitlicher Analyse- und Vergleichsrahmen Anwendung, der aus drei Interpretationsachsen besteht: a) Grenzen und menschliche Territorialität bzw. einem Verständnis von Raum, das von einer aktiven Rolle seiner Materialität ausgeht, b) einer differenzierten Sicht auf Macht und multiple Loyalität sowie c) einem Verständnis von Mikrogeschichte, das vielschichtige Kontexte einbezieht.
Im 2. Kapitel präsentiert die Verfasserin Grundschulbildung, Spracherwerb und Erfahrungen der Kinder in den gewählten Untersuchungsgebieten während des Ersten Weltkriegs als Ausgangsbasis für ihre Studie. Das 3. Kapitel liefert für die folgende Analyse des Grundschulsprachunterrichts einen eigens entwickelten Vergleichsrahmen: Hier wird die von Nenad Stefanovs 2017 entwickelte Methode, die auf den drei analytischen Achsen multiple Loyalitäten, Phantomgrenzen und Mikro-/Lokalgeschichte basiert [2], mit Erkenntnissen der Humangeografie, der Politikwissenschaft und der border studies ergänzt (53).
In drei weiteren Kapiteln werden die in der Zwischenkriegszeit in den polnischen und belgischen Grenzgebieten entstandenen Machtsysteme und deren Konsequenzen für die jeweilige Schulpolitik und Pädagogik in drei Perioden rekonstruiert: 1919-1925, 1926-1932 sowie 1933-1939. So wurde in der ersten Zeitspanne das Einheitsschulsystem mit deutschem Unterricht durch zwei Grundschultypen mit Unterricht in zwei verschiedenen Sprachen ersetzt. Für die zweite Hälfte der 1920er und den Beginn der 1930er Jahre spielen die Bedingungen und Praktiken des Spracherwerbs in den Grenzgebieten eine zentrale Rolle in der Vergleichsanalyse. Mich überraschte der Befund, dass die meisten Grenzschüler:innen bei der Ausübung ihrer Religion mehr Freiheiten als zuvor genossen (110). Die nachfolgende Periode der 1930er Jahre verdeutlicht, wie polnische und belgische Behörden neue pädagogische Methoden einzuführen versuchten, nachdem sich die geopolitischen Machtverhältnisse geändert hatten, als z. B. der Völkerbund seit 1933 in der schlesischen Schulpolitik keine Rolle mehr spielte. Hier wird illustriert, wie die Grenzgebiete zunehmend in den Sog geopolitischer Strategien zur künftigen Neuaufteilung des europäischen Kontinents gerieten. Eine Zusammenfassung, ein englischsprachiges Abstract sowie der übliche wissenschaftliche Registerteil, ergänzt durch eine hilfreiche Übersicht zu den belgischen und polnischen Regierungen sowie ihren für das Bildungsressort zuständigen Minister, beschließen die Studie.
Abschließend kann die Verfasserin konstatieren, dass der Schulbesuch in beiden Vergleichsregionen während der gesamten Zwischenkriegszeit von deutlich voneinander abweichenden Erfahrungen geprägt war. Aber trotz der Unterschiede in den sich ständig wandelnden Machtsystemen wiesen die Grenzlandschulen auch Gemeinsamkeiten auf: a) sie waren von internationalen und transnationalen Veränderungen geprägt; b) sie waren Gegenstand spezifischer spracherwerbspolitischer Maßnahmen; c) diese Maßnahmen waren in den Grenzgebieten eher verhandelbar; d) die betreffenden Schüler:innen erfuhren die Auswüchse der sich wandelnden Machtsysteme ganz unmittelbar.
Als kritische Randnotiz sei lediglich erwähnt, dass mir die Bezüge zur Reformpädagogik zu unscharf erscheinen, wenn sich z. B. das Deutsche Kaiserreich am Ende des 19. Jahrhunderts zu einem "reformpädagogischen Giganten" (3) entwickelt haben soll oder "die Reformpädagogik" (148 und passim) als einheitliche, a priori fortschrittliche Bewegung beschrieben wird.
Insgesamt handelt es sich um eine überzeugende, ausgesprochen innovative Mikroanalyse zu zwei kontinentaleuropäischen Grenzgebieten der Zwischenkriegszeit. Bestechend ist nicht nur das breite Quellenfundament (beispielsweise wurde in 15 Archiven in Polen, Belgien und Deutschland recherchiert), sondern auch die Entwicklung und Anwendung neuer methodologischer Zugänge. Damit ist der Verfasserin ein durchweg überzeugender Nachweis gelungen, wie entscheidend die Grenzlandschulen für die Loslösung der polnisch-deutschen und belgisch-deutschen Grenzgebiete von Deutschland und ihre Integration in den polnischen bzw. belgischen Nationalstaat waren. Die Untersuchung verdeutlicht, wie die neu konfigurierten Staaten Grenzlandschulen und das Erlernen von Sprachen als Instrumente zur Verwirklichung des imaginierten friedlichen Europas betrachteten. Die vorliegende Studie sei hiermit allen Interessierten als eine überaus kluge, stets akribisch abwägende und äußerst lesenswerte Darstellung nachdrücklich empfohlen.
Anmerkungen:
[1] Jürgen Kocka / Heinz Gerhard Haupt (Hgg.): Comparative and Transnational History. Central European Approaches and New Perspectives, New York 2009.
[2] Nenad Stefanov: Die Erfindung der Grenzen auf dem Balkan. Von der spätosmanischen Region zu nationalstaatlichen Peripherien: Pirot und Caribrod 1856-1989, Wiesbaden 2017.
Andreas Pehnke