Rezension über:

Florian Schikowski (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1985. Die geheimen Berichte an die SED-Führung (= Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024, 320 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30291-0, EUR 30,00
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Rezension von:
Hermann Wentker
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Wentker: Rezension von: Florian Schikowski (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1985. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 6 [15.06.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/06/39860.html


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Florian Schikowski (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1985

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1985 erscheint rückblickend als das erste Jahr vom Anfang des Endes des Kalten Kriegs. Denn mit Michail Gorbatschow, der damals in der Sowjetunion das Amt des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) antrat, begann eine von Reformbestrebungen und Entspannung geprägte Ära, die in das annus mirabilis 1989/90 mündete. Diese Entwicklung war 1985 noch keineswegs erkennbar. Die Ostdeutschen wussten laut einem Bericht in dem vorliegenden Band fast nichts über Gorbatschow. Sie hegten aber angesichts seines relativ jungen Alters die Erwartung, "dass er über einen längeren Zeitraum die Politik der UdSSR entscheidend mitprägen" und, angesichts der Rückkehr Moskaus zu den Genfer Rüstungskontrollverhandlungen, die Entspannungspolitik fortführen werde (165). Auf der Grundlage aller Berichte, die die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe der Stasi (ZAIG) damals zusammenstellte, bezeichnet der Bandbearbeiter Florian Schikowski "das Jahr 1985 für die DDR als ein Jahr ohne größere Eruptionen im inzwischen normalen Krisenmodus". (15)

Seit dem Volksaufstand von 1953 erstellten die ZAIG und ihre Vorläufer Berichte für das eigene Ministerium und für die Staats- und Parteiführung über die unterschiedlichsten Themen. Die Inlandsberichte stellen eine zentrale Quelle für die innere Entwicklung der DDR dar und werden daher seit einiger Zeit in Jahresbänden ediert. Der Band zu 1985 enthält eine Auswahl der 194 edierten Dokumente aus diesem Jahr; alle Berichte sind auf einer Datenbank im Internet abrufbar (https://1985.ddr-im-blick.de). Sie sind knapp kommentiert und mit einer instruktiven Einleitung versehen, aus der auch hervorgeht, was die ZAIG nicht thematisierte.

Von höchster Relevanz für die Stasi war das Verhalten der evangelischen Kirche, der einzigen nicht gleichgeschalteten Großorganisation in der DDR. 1985 kam es nach dem Treffen zwischen SED-Führung und Kirchenleitung von 1978, das einen Modus Vivendi zwischen beiden Seiten festgehalten hatte, zu einem zweiten Spitzentreffen zwischen Honecker und dem Vorstand der Konferenz der Kirchenleitungen, Johannes Hempel. Das bekräftigte den Weg von 1978, ging aber nicht darüber hinaus. Beide Seiten waren an stabilen Beziehungen interessiert: die Kirche, um die gewonnenen Freiräume nicht zu gefährden, und die SED, um über die Kirchenleitungen die sich im kirchlichen Raum formierenden Basisgruppen zu kontrollieren und zu mäßigen. Die Berichte zeigen, wie genau die Stasi die kirchlichen Gremien beobachtete und dabei deutlich zwischen den der DDR wohlgesonnenen und sogenannten politisch-negativen Kräften unterschied. Und sie gab auch Handlungsempfehlungen, wenn sie, wie bei einer Synodaltagung in Erfurt, die Aufwertung von Friedens- und Umweltgruppen missbilligte.

Letztere nahmen ebenfalls großen Raum in der Berichterstattung ein, da sie, wie die Frauen für den Frieden, für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Kritik und Opposition verkörperten. Aufmerksam registrierte die Stasi die immer stärkere Vernetzung dieser Gruppen untereinander, genauso wie eine Verschiebung der Aufmerksamkeit von dem Thema Frieden auf Umwelt und Menschenrechte. Hintergrund dafür war die Niederlage der Friedensbewegung in der Bundesrepublik, wo der Bundestag allen Protesten zum Trotz Ende 1983 grünes Licht für die Stationierung von atomaren Mittelstreckenwaffen gegeben hatte. Die enge Verbindung von west- und ostdeutscher Friedensbewegung kam auch in den misstrauisch beobachteten Besuchen prominenter Grünen-Politiker bei den ostdeutschen Basisgruppen zum Ausdruck. Bei all dem entging dem MfS jedoch, dass sich im Herbst 1985 mit der Initiative Frieden und Menschenrechte "die erste bewusst kirchenunabhängige Oppositionsgruppe formierte". (30)

Wie der Bearbeiter zutreffend festhält, behandelten 1985 auffallend wenige Berichte die krisengeschüttelte Wirtschaft sowie Havarien, Brände und andere sich in den 1980er Jahren häufenden Vorkommnisse. Diese Themen wurden offensichtlich bewusst ausgelassen, ohne dass klar ist, worauf dies zurückzuführen ist. Jedoch verweisen auch die vorhandenen Dokumente auf eine schwierige wirtschaftliche Lage, etwa im Zusammenhang mit der Energieversorgung im Winter 1985/86. Hinzu kommen die Stimmungsberichte zur Unzufriedenheit der Bevölkerung über die sich immer weiter verschlechternde Versorgungslage, was auf massive wirtschaftliche Probleme schließen lässt. In diesen Zusammenhang gehört auch der registrierte Unmut über die Einrichtung von immer mehr Intershop-Läden, in denen nur mit westlichen Devisen eingekauft werden konnte. Das führe, wie der nur Stasi-intern kommunizierte, leider nicht abgedruckte Bericht zutreffend festhielt, zu einem "'Land mit zwei Währungen' und 'privilegierte' Schichten". (35)

Ein weiteres wichtiges Thema betraf Ausreisen, Flucht und den Umgang mit Einreisenden. 1984 hatte die SED-Führung insgesamt 48.000 Menschen aus der DDR ausreisen lassen - eine Zahl, die in dem Buch leider nicht erscheint -, um sich dadurch der Unzufriedenen zu entledigen und das Problem zu lösen. Jedoch fühlten sich diese im Gegenteil dadurch animiert, massenhaft Anträge zu stellen und Botschaften zu besetzen, um ihre Ausreise zu erzwingen. Daher initiierte Ost-Berlin eine Kampagne, der zufolge 20.000 desillusionierte Ostdeutsche aus dem Westen in die DDR zurückwollten. In drei Berichten über die Reaktionen der Bevölkerung stellte die Stasi zwar mit Befriedigung fest, dass zahlreiche Bürger eine Rückkehr der Ausgereisten vor allem unter Verweis auf die Wohnungsknappheit in der DDR ablehnten. Sie notierte jedoch auch Zweifel über die Zahlenangabe und dass sich die Antragsteller nicht abschrecken ließen. Thematisiert wurden ebenfalls drei spektakuläre Fluchtfälle, über die bundesdeutsche Medien berichteten, sowie die Ablehnung der Einreise von Albert Prinz von Sachsen, des Enkels des letzten sächsischen Königs, offensichtlich weil man zu große Aufmerksamkeit für den Wettiner befürchtete, der zudem dem Vorstand der Verbandsorganisation von DDR-Flüchtlingen in der Bundesrepublik angehörte.

Die Einleitung der insgesamt gelungenen Edition enthält noch den wichtigen Hinweis, dass lediglich die Informationen über Einzelereignisse und routinierte Standardberichte, etwa über die Tagungen kirchlicher Gremien, an die Führung gingen, während die sehr viel brisanteren Berichte über die Bevölkerungsstimmung stasiintern blieben. Die Stasi war sich über die krisenhafte Situation der DDR im Klaren, der Führung wurden die entsprechenden Informationen jedoch vorenthalten. Das könnte auch erklären, warum sich die SED-Spitze 1989, unmittelbar vor Ausbruch der Herbstrevolution, noch relativ sicher fühlte.

Hermann Wentker