sehepunkte 25 (2025), Nr. 10

Matthias Schulz: Das Vermächtnis des Steins

Die Literatur zu Andrea Mantegna (1431-1506), dem "defining genius" des Quattrocento, ist kaum zu überblicken. [1] Matthias Schulz gelingt dennoch die bemerkenswerte Leistung, das Phänomen Mantegna neu aufzurollen, wenn er in seiner Dissertationsschrift einen Aspekt des künstlerischen Schaffens fokussiert, der ebenso offensichtlich wie schwer zu greifen ist: der "mineralische Schleier" (10), der über Mantegnas Gemälden zu liegen scheint und in die er anorganische wie organische Materie gleichermaßen kleidete. Für dieses "Dispositiv des Steinernen" (281) hat Schulz erstmals eine umfassende Deutung vorgelegt, die frühneuzeitliche Naturphilosophie und künstlerische Selbstreflexion miteinander in Beziehung setzt und so auch die alte Frage nach dem Verhältnis der kulturellen Konstrukte 'Kunst' und 'Natur' - deren Dichotomie-Charakter in den vergangenen 25 Jahren stark ins Wanken geraten ist - neu aufgreift. Vasari zitierte Mantegnas Lehrer Francesco Squarcione, wenn er schrieb, der Künstler habe nicht lebendige Körper, sondern farbig gefasste Skulpturen dargestellt; in seiner Steinästhetik habe er nicht den Umweg über das direkte Naturstudium, sondern die antike Skulptur zum Paradigma gewählt. [2] Wie so oft sollte diese Einschätzung Vasaris die Forschung nachhaltig prägen und den Blick auf andere Perspektiven verstellen. Mantegna gilt als humanistisch und antiquarisch hochgebildeter Künstler, wobei Schlagwörter wie "Renaissance-Humanismus" gleichermaßen ahistorisch wie unscharf sind und bisweilen geradezu beliebig zum Einsatz kommen. [3]

Der Buchtitel "Das Vermächtnis des Steins" verweist auf zweierlei: auf das skulptierte Artefakt des antiken Steins mit seiner ästhetischen und kulturellen Potenz sowie auf den Stein als Träger der Produktivkräfte der Natur. Antike und Natur seien für Mantegna, so Schulz, schöpferische Instanzen, auf die er künstlerisch reagiere, wobei seine Auseinandersetzung mit der Antike und mit den natürlichen Ausdrucksformen des Mineralischen untrennbar miteinander verbunden seien (7-8). Wenn der Autor bemerkt, dass Mantegnas Gemälde "weder eine dualistische, noch eine exkludierende Engführung des Verhältnisses von Antike und Natur, Kultur und Natur [forcieren, sondern stattdessen] die Rezipient:innen mit dynamischen Grenzverläufen und wechselseitigen Spiegelungen von künstlerischen Eigensinn [konfrontieren]" (8), dann bewegt er sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu Diskursen des new materialism (der von Haraway 2003 geprägte Neologismus natureculture [4] kommt in den Sinn), ohne jedoch explizit darauf Bezug zu nehmen. Ausdrücklich schließt Schulz jedoch an jüngere Tendenzen der kunstwissenschaftlichen Forschung an, insbesondere an die Arbeiten von Jacob Wamberg und Jerome Cohen sowie an die im Umfeld der Forschungsstelle "Naturbilder" entstandenen Publikationen zu Steinformen und Naturkräften. [5] Das Hamburger Projekt wollte die Bildgeschichte von Kunst, Naturwissenschaften, Naturphilosophie und Technik dialogisch aufeinander beziehen, mit dem Fokus auf "natürliche" und "künstlerische" Formkräfte. Davon inspiriert nimmt Schulz die markanten Formenbildungen und Materialinszenierungen Mantegnas zum Ausgangspunkt. Bestimmte Grundformen würden in verschiedenen Materialien wieder aufgegriffen, und diese "morphologischen Resonanzen" (9) seien das ästhetische Credo des Künstlers, wobei die Welt der Steine eine Schwellen- und Brückenfunktion einnehme, die zwischen den Naturreichen des Organischen und Anorganischen vermittle.

Die Arbeit gliedert sich in vier große Abschnitte. Das Eröffnungskapitel ist Mantegnas letztem Gemälde "Einzug des Kybele-Kultbildes in Rom" gewidmet, da hier die Qualitäten des Werks gebündelt kulminierten (12). An Sabine Blumenröders Analyse zur Materialikonographie bei Mantegna und ihre Bemerkung, die Grisaille sei "Kunst über Kunst" [6], schließt Schulz die Frage an, in welchem Verhältnis Mantegnas Materialverständnis zu zeitgenössischen Theorien über die Entstehung von Materie und Mineralien sowie zur schöpferischen Potenz des Feuers steht, welches zu den Protagonisten des Gemäldes zählt (18-19). Im dritten Kapitel erfolgt die Behandlung ausgewählter Madonnenbildnisse vom Typus der Sacra Conversazione. Wenn Schulz die Tendenzen zur Verflüssigung und Transformation der (steinernen) Materialien im Werk Mantegnas mit antiker und frühneuzeitlicher Naturphilosophie in Beziehung setzt, dann geht es ihm selten um monokausale Text-Bild-Kopplungen, sondern darum, den Künstler als Symptom seiner Zeit zu sehen und den Fokus auf das Antizipationsvermögen von Kunst zu legen. Dabei wird deutlich, dass die Natur nicht entdeckt oder vorgefunden, sondern stets aufs Neue erfunden wurde (279). Die Malerei als synthesebildende Kunstform reflektiere die schöpferischen Grenzübergänge der Natur.

Mit den Gemälden "Parnass" und "Minerva vertreibt die Laster aus dem Garten der Tugenden" (Kapitel 4 und 5) liegt der Fokus der Arbeit auf dem Studiolo der Isabella d'Este in Mantua. Im allegorisch-astrologischen Fürst:inporträt des "Parnass" gehen Bildpersonal, Landschaft und Materialinszenierungen diverse Beziehungen ein, wobei die Landschaft als Akteur oder Träger kunstverwandter Produktivkräfte in Erscheinung trete (132). Hier ist Schulz mitunter Martin Warnkes "Politischer Landschaft" verpflichtet und geht dezidiert über Stephen J. Campbells Abgleich von Text- und Bildkultur hinaus. [7] Vielmehr fragt er nach den künstlerischen Reflexionsräumen eines im Material seiner Kunst reflektierenden Malers; es entstehe eine dramatische Kopplung von Natur und Person durch Stein, durch die Verwendung von "morphologischen Echos" (11) bzw. Dramaturgien. Mantegna nehme das zentrale Motiv des Tanzes als universeller Metapher und - durch den Akt des Weiterreichens - dialogischer Kunstform zum Ausgangspunkt einer eng miteinander verflochtenen Kunst- und Naturreflexion (146). Neben "latenten Aristotelismen" zieht Schulz vor allem Marsilio Ficinos Eros-Konzeption sowie Lukrez atomistische Poetik heran (159, 185-187). Zu den astrologischen und musikalischen Implikationen im "Parnass" träten alchemistische, die sich in der Schmiede Vulkans als Ort der Verwandlung verdichteten; ihnen liege das Wissen um eine universelle und alle(s) durchdringende Harmonie zugrunde (225-226). Auch in dem als "Minerva vertreibt die Laster aus dem Garten der Tugenden" betitelten Pendant seien Landschaft und Garten Träger von schöpferisch-unruhigen Latenzen; diese "poiesis der Latenz", ausgehend von der Adaption des Daphne-Mythos, verbinde Mantegna mit Petrarca (257-263). Der Maler spanne einen morphologischen Bogen von Daphne über die Fels- und Wolkenformationen bis hin zu der im Mauerwerk gefangenen Prudentia, wobei insbesondere die polymorphen Felsformationen auf die "Natur als Bildnerin" verwiesen (269).

Trotz der Bemerkung, dass Kunst und Natur bei Mantegna nicht im Überbietungsmodus stünden, sondern in einer gemeinsamen Realität gründeten, wird die Dichotomie Kunst bzw. Kultur versus Natur in Schulz' Studie nie ganz aufgegeben. Sie zeichnet sich durch einen kenntnisreichen Umgang mit naturphilosophischen Quellen aus Antike und Früher Neuzeit aus und kann auch von der künftigen Forschung als ein wahrer 'Steinbruch' herangezogen werden. Ein weiterer Vorzug der Arbeit liegt in der gründlichen Bildbetrachtung und dem Beschreiben einer schriftunabhängigen Bildsprache, in der etwa Texturen und morphologische Resonanzen ein eigenes Narrativ entfalten können. Die Malerei Mantegnas, so Schulz, erfinde ihre Themen und Zugriffe als Medium philosophischer Reflexion mit eigener epistemischer Autorität, ohne sklavisch von einer Textkultur abzuhängen (186).


Anmerkungen:

[1] Keith Christiansen: The Genius of Andrea Mantegna, New York 2010, 3.

[2] Giorgio Vasari: Das Leben der Bellini und des Mantegna (übersetzt von Victoria Lorini, hg. und kommentiert von Rebecca Müller), Berlin 2010 (1568), 48.

[3] Vgl. Benjamin Arbel: The Renaissance Transformation of Animal Meanings. From Petrarch to Montaigne, in: Making Animal Meaning, ed. by Linda Kalof, East Lansing 2011.

[4] Donna Haraway: The Companion Species Manifesto: Dogs, People and Significant Otherness, Chicago 2003.

[5] Vgl. Jacob Wamberg: A Stone and Yet Not a Stone: Alchemical Themes in North Italian Quattrocento Landscape Imagery, in: Art and Alchemy, ed. by Jacob Wamberg, Kopenhagen 2006, 41-81; Jeffrey Jerome Cohen: Stone. An Ecology of the Inhuman, Minnesota 2015; Frank Fehrenbach / Robert Felfe / Karin Leonhard (Hgg.): Kraft, Intensität, Energie: Zur Dynamik der Kunst, Berlin 2018; Isabella Augart / Maurice Saß / Iris Wenderholm (Hgg.): Steinformen: Materialität, Qualität, Imitation, Berlin 2019; Iris Wenderholm / Isabella Augart (Hgg.): Stein. Eine Materialgeschichte in Quellen der Vormoderne, Berlin 2021.

[6] Sabine Blumenröder: Andrea Mantegna - die Grisaillen. Malerei, Geschichte und antike Kunst im Paragone des Quattrocento, Berlin 2008, 30.

[7] Martin Warnke: Politische Landschaft. Zur Kunstgeschichte der Natur, München 1992; Stephen J. Campbell: The Cabinet of Eros. Renaissance Mythological Painting and the Studiolo of Isabella d'Este, New Haven 2006.

Rezension über:

Matthias Schulz: Das Vermächtnis des Steins. Morphologische Dramaturgien zwischen Transition und Transformation im Werk Andrea Mantegnas, Heidelberg: arthistoricum 2024, 320 S., DOI: https://doi.org/10.11588/arthistoricum.1417, ISBN 978-3-98501-248-0, EUR 60,00

Rezension von:
Katharina Bedenbender
Institut für Kunst- und Bildgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Katharina Bedenbender: Rezension von: Matthias Schulz: Das Vermächtnis des Steins. Morphologische Dramaturgien zwischen Transition und Transformation im Werk Andrea Mantegnas, Heidelberg: arthistoricum 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 10 [15.10.2025], URL: https://www.sehepunkte.de/2025/10/40124.html


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